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Lesedauer: 7 min 09.2019

An welchen Orten entfaltet sich heute unser Wissen von morgen?

Publikation

Leonie Novotny fragt: Warum braucht es in unserer heutigen Zeit mehr denn je neue Lern- und Erfahrungsorte? Wo entstehen neue Perspektiven und Haltungen für eine zukunftsfähige Gesellschaft? Wer sind mögliche Akteur:innen in diesem Feld und wie handeln diese?

Neue Perspektiven auf Think Tanks als Kuratoren gesellschaftlicher Wissensproduktion oder die Frage nach dem gesellschaftsgestaltenden Potenzial der neuen Think Tanks.

In einer Zeit, in der dem Schöpfen neuen Wissens eine zunehmend tragende Rolle zugeschrieben, und dieses immer vernetzter und komplexer wird, nehmen Think Tanks als Orte der Wissensproduktion eine neue gesellschaftsgestaltende Rolle ein. Betrachtet man die deutschsprachige Think Tank-Landschaft, so zeigt sich eine Entwicklung von deren einst „elitäre[n] Abgeschlossenheit“ (Pias, C./Vehlken, S., 2010, S. 7). hin zu einer Öffnung gegenüber der Gesellschaft in Form von Veranstaltungsformaten, wie bspw. Kongressen oder Podiumsdiskussionen. Zur Frage steht daher, warum es wichtig ist, dass Think Tanks heute als Kuratoren eines direkten wissensbildenden Austauschs agieren.

Heute ist die Denkfabrik-Landschaft groß und nur schwer überschaubar. Kennzeichnend für einige etablierte Think Tanks ist der häufige Versuch, in ihrer Produktion von Wissen schon bestehende Meinungen zu stützen. Es gibt jedoch auch vielseitige neue Organisationen, die sich als Think Tanks verstehen und einer Wissensproduktion verschreiben, die im öffentlichen Dialog zwischen verschiedenen Disziplinen entsteht. Es geht um Gesellschaftsverantwortung und die Aufgabe des Anstoßens und Ermöglichens einer Wissensschöpfung durch interdisziplinäre Dialoge – und das in Veranstaltungsformaten, die zumeist öffentlich zugänglich sind und medial begleitet werden.

So lässt sich die Vermutung anstellen, dass durch diesen wesentlichen Unterschied auch neue Agenden für unsere Gesellschaft gesetzt werden können, die sich ganz bewusst aus einem zufälligen Zusammenspiel des Wissens von Vielen ergeben. So entsteht unter anderem die Frage nach der Funktion, die Think Tanks in der heutigen Gesellschaft tragen. Was veranlasst diese Think Tanks dazu, ihre Wissensproduktion, statt in einem additiven Erzeugen von Theorien und Expertisen, in einem synergetischen Zusammenwirken verschiedener Disziplinen entstehen zu lassen? Welche Art von notwendigem Wissen als Antwort auf gesellschaftliche Fragen entsteht eben nicht in den klassischen Strukturen einer Gesellschaft, sondern bedarf dieses neuen Ortes der Wissensproduktion? Welche Think-Tank-Formen begünstigen diese Wissensproduktion und wie verhalten sich diese im Kontext unserer Gesellschaft?

Die moderne Gesellschaft steht zwischen globalem Wettbewerb, zunehmender Komplexität, stark vernetzten und schneller werdenden Informationsflüssen und disruptiven Kräften, wie Digitalisierung, KI und Big Data, vor einem Konglomerat aus ganz vielfältigen Herausforderungen – es herrscht Handlungsbedarf. Und das in einer Zeit, in der wir in einer „[...] Gesellschaftsordnung [leben], in der die Produktion von Wissen erstmals gesellschaftlich konstitutiv geworden ist [...]“ (Stichweh, R., 2018, S. 245). – das heißt, gesellschaftsgestaltend und somit grundlegend für zukunftsfähige Handlungen (Luhmann, N., 1992, Stehr, N., 1994). Handlungen, die von maßgeblicher Wichtigkeit sind für den Erhalt einer gesunden Gesellschaft. Indessen wächst das Wissen nicht nur in vielfältiger und rasanter Weise vor sich hin, sondern – und das ist bezeichnend für unsere moderne europäische Gesellschaft – es wird versucht, „intentional“, also zielorientiert, neues Wissen zu produzieren (Stichweh, R., 2018, S. 245).

Es heißt, die klassischen Wissensquellen und Orte der Wissensproduktion in unserer Gesellschaft verlören zunehmend an Glaubwürdigkeit. Die Sphären der Bildung – und somit auch der bisher relevanten Orten der Wissensproduktion – werden in den öffentlichen Diskursen immer häufiger mit dem Begriff der Krise verbunden. Sie drehen sich um Schlagworte wie Citizen Science, also das Wissen der Vielen, um Konnektivität und Ambiguität, die zunehmende Komplexität und Interdisziplinarität, um neue Netzwerkstrukturen und die Bedeutung von Humankapital. All‘ diese Diskurse finden in der Auseinandersetzung innerhalb verschiedenster Think Tanks – als Orte, in denen neue Formen der Wissensproduktion entstehen und sich weiter entfalten können – ein verbindendes Glied. Versteht man den Begriff der Krise nun als solchen, der einen transformativen Wendepunkt beschreibt – und folgt der Erkenntnis, dass eine Vielzahl an Think Tanks zumeist im Zuge einer solchen Wende entstanden sind, so erweist es sich auch nicht als verwunderlich, dass die Anzahl an Think Tanks innerhalb der letzten Jahre rasant gestiegen ist. Think Tanks als globalgesellschaftliches Phänomen zu erkennen – als Werkzeug, mit dem die heutige Wissensgesellschaft arbeitet – und entsprechend eine konkrete Relevanz im 21. Jahrhundert zuzuschreiben, scheint dementsprechend nicht fern zu liegen. Denn mit der zunehmenden Komplexität gesellschaftlicher Herausforderungen bedarf es neuer, komplexer Orte, die sich als Plattform und Treffpunkt für die Begegnung interdisziplinärer Perspektiven öffnen.

Die neuen Think Tanks besitzen heute das Potenzial, die kuratorische Seite einzunehmen und verleihen der Wissensproduktion im Gespräch unterschiedlicher Beteiligter eine Struktur, ohne sie dabei einzuschränken. In einem solchen Kuratieren und Anstoßen von Prozessen der Wissensproduktion sehe ich den zukünftigen Wert und somit gesellschaftsgestaltenden Beitrag von Think Tanks, der dabei in seiner Methode vielmehr bietet als eine gezielt strategische Steuerung gesellschaftlicher Diskussionen. So bringt in diesem Zusammenhang auch ein Zusammenwirken mit Künstlicher Intelligenz keine Ablösung des Denkens mit sich, sondern vielmehr eine Unterstützung der Rückkopplungsprozesse und lässt eine Mehrdeutigkeit zu, die nicht immer auf eine Eindeutigkeit reduziert werden muss (Bauer, T., 2018, S. 17ff). Eine Eindeutigkeit, die in Folge der Technisierung sogar eher hinderlich ist für die Beantwortung zunehmend komplexer, mehrdeutiger Herausforderungen (Bauer, T., 2018, S. 17ff). Es geht darum, diese Komplexität, diese Mehrdeutigkeit auszuhalten und auf Veranstaltungen von Think Tanks eine Offenheit zu erzeugen, die das Publikum mit einbezieht.

Und so wie sich Digitalisierung und KI zunehmend mit unserer Gesellschaft verweben, ist es wohlmöglich die Schönheit des Menschlichen, die an Potenzial gewinnt und an Orten der Begegnung – so wie Think Tanks es erlauben – konkret erlebbar wird.

Think Tanks so nicht nur in ihrer Schönheit, ihrer Wichtigkeit entdeckend, sondern in gleichem Maße auch zu erkennen, dass Wissensproduktion seit jeher im Kollektiv stattfand, glaube ich daran, dass Menschen auch weiterhin Wissen aus einem inspirierenden Zusammenspiel verschiedener Perspektiven schöpfen werden. Gemeinsam in dialogischer Unterstützung und der geteilten Aufwendung des Mutes, den der Schritt ins Unbekannte verlangt, schafft man Wissen, das bisweilen sogar Grenzen überwindet.

Quellen:

BAUER, Thomas (2018). Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart: Reclam Verlag.

LUHMANN, Niklas (1992). Ökologie des Nichtwissens. – In: Luhmann, Niklas: Beobachtungen der Moderne. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 149–220.

PIAS, Claus/VEHLKEN, Sebastian (2010). Einleitung. Von der «Klein- Hypothese» zur Beratung der Gesellschaft. – In: Brandstetter, Thomas/Pias, Claus/Vehlken, Sebastian (Hrsg.): Think Tanks. Die Beratung der Gesellschaft. Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 7–15.

STEHR, Nico (1994). Arbeit, Eigentum und Wissen. Zur Theorie von Wissensgesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

STICHWEH, Rudolf (2018). Wissensproduktion der Zukunft. – In: Mair, Stefan/Messner, Dirk/Meyer, Lutz: Deutschland und die Welt 2030. Was sich verändert und wie wir handeln müssen. Berlin: Econ Verlag, S. 244–250.

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